Am 6. Mai begrüßten wir Professor Philippe Sands, renommierter Jurist, Autor und international anerkannter Experte des Völkerrechts, im historischen Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes zu einem öffentlichen Gespräch. Im Dialog mit der stellvertretenden Direktorin Dr. Viviane Dittrich sprach Professor Sands über die Möglichkeiten und Grenzen des Rechts sowie die komplexe Beziehung zwischen Gräueltaten und Recht und zwischen Rechenschaftspflicht und Straflosigkeit für völkerstrafrechtliche Verbrechen.
Ein zentrales Thema waren die Verknüpfungen persönlicher Lebensgeschichten mit der internationalen Justiz und den großen Entwicklungen im Völkerstrafrecht.
Das Gespräch spannte einen weiten Bogen: von der Rolle des Rechts in politischen Zusammenhängen über die Verbindung von Recht und Literatur bis hin zur Bedeutung des öffentlichen Verständnisses von Recht und gegenwärtige Erinnerungspolitik. Besonders eindrücklich waren die Ausführungen zum sogenannten „Pinochet-Moment“ – einem Wendepunkt für die Idee des Weltrechtsprinzips –, sowie zu Fragen der strafrechtlichen Verantwortung von Staatsoberhäuptern und deren Immunität.
Beispielhaft erläuterte Professor Sands das Verfahren gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet sowie die Rolle des ehemaligen SS-Offiziers Walter Rauff, der sich jahrzehntelang in Chile der Strafverfolgung entzog. Auch die bleibende Relevanz der Nürnberger Prozesse und der Nürnberger Prinzipien wurde thematisiert. „Die Anwendung und Durchsetzung der Nürnberger Prinzipien ist ein langwieriges Unterfangen, in dem sich Recht und Politik überschneiden“, so Professor Sands.
Im Rahmen der Veranstaltung las Professor Sands den Prolog seines aktuellen Buches "Die Verschwundenen von 38 Londres Street: Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien". Im anschließenden Gespräch wurde über die Hauptfiguren, Schlüsselthemen sowie den engen Bezug des Werks zu aktuellen politischen und rechtlichen Entwicklungen diskutiert. Durch die geschickte Mischung aus Detektivgeschichte, Gerichtsdrama und Lebensgeschichten enthüllt das Buch eine verborgene Geschichte des Massenmords, die die Schrecken der 1940er Jahre mit unserer Gegenwart verknüpft. Bei Pinochets Verhaftung 1998 in London wurde Professor Sands gebeten, den ehemaligen Staatschef hinsichtlich seines Anspruchs auf Immunität zu beraten. Stattdessen beteiligt er sich mit Human Rights Watch an der Anklage gegen ihn.
Die Veranstaltung wurde durch einführende Worte von Professor Dr. Alexander Korb, Direktor des Memorium Nürnberger Prozesse, und Dr. Dittrich eröffnet.
Philippe Sands ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for International Courts and Tribunals am University College London sowie Samuel and Judith Pisar Visiting Professor an der Harvard Law School. Er arbeitet als Barrister bei 11 King’s Bench Walk Chambers und tritt vor vielen internationalen Gerichthöfen auf.. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. 2020 erschien von ihm „Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht", 2017 „Rückkehr nach Lemberg", das mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 ausgezeichnet und Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017 wurde. Professor Sands hielt die erste Vorlesung in der Reihe der Nuremberg Academy Lectures im Jahr 2020 und war federführend bei der 2015 Sonderaufführung „A Song of Good and Evil“ (em).