5. Juni 2025, von Astrid Walter und Dr. Pablo Gavira Díaz
1. Die Erklärung der libyschen Regierung, die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes anzuerkennen
Am 12. Mai 2025 erhielt der Kanzler (englisch Registrar) die Erklärung der libyschen Regierung, dass Libyen die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) über mutmaßlich auf libyschem Territorium begangene Verbrechen für den Zeitraum von 2011 bis 2027 anerkennen werde. In diesem Kommentar werden die Hintergründe und Argumente, von denen die Tätigkeit des IStGH im Fall Libyens geprägt ist, dargestellt. Zudem wird der verfahrensrechtliche Rahmen erläutert, der die Anerkennung der Autorität des Gerichtshofs durch einen Staat regelt.
Der IStGH befasst sich seit Ende Februar 2011 mit dem libyschen Konflikt, nachdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) die Situation in Libyen an den IStGH überwiesen hatte. Erste Haftbefehle wurden bereits am 27. Juni 2011 erlassen, knapp vier Monate nach der Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat. Seitdem wurden zahlreiche weitere Haftbefehle erlassen. Aktuell stehen acht öffentliche Haftbefehle aus, der letzte davon wurde am 18. Januar 2025 gegen Osama Elmasry Njeem verhängt. Drei weitere Haftbefehle, darunter der gegen den ehemaligen Machthaber Muammar al-Qaddafi, wurden zurückgenommen, nachdem die jeweiligen Tatverdächtigen verstorben waren. Im vergangenen Jahr hat der Chefankläger des IStGH angekündigt, seine Ermittlungstätigkeit in Libyen Ende des Jahres 2025 einzustellen.
2. Der Hintergrund des Konflikts in Libyen
2011 wurden prodemokratische Proteste gegen Libyens langjährigen autokratischen Machthaber Muammar al-Qaddafi gewaltsam niedergeschlagen. Die sich anschließenden Kämpfe und ein siebenmonatiger Militäreinsatz unter Führung der NATO führten schließlich zum Sturz Qaddafis, einer Übergangsverfassung und, im Juli 2012, zur ersten gewählten Übergangsregierung, dem sogenannten ‚General National Congress’. Im Bemühen um politische Stabilität und um den bewaffneten Konflikt zwischen den rivalisierenden Kräften beizulegen, wurde 2011 eine UN-Mission, die sogenannte UN Support Mission in Libya (UNISMIL), eingesetzt, deren Mandat seither jährlich verlängert wurde. Mit der Hilfe von UNISMIL konnten 2014 allgemeine Wahlen organisiert und durchgeführt werden, deren Ergebnis jedoch eine Spaltung des Landes zwischen zwei rivalisierenden Regierungen bewirkte: eine mit Sitz in Tripoli (sogenannte ‚Government of National Unity’) und eine mit Sitz in Benghazi (sogenanntes ‚House of Representatives’).
Die Gewalt, die 2011 ausgebrach, entwickelte sich bis 2014 zu einem Bürgerkrieg. Bis heute kommt es zu wiederholten Episoden gewaltsamer Auseinandersetzungen. Die Ermittlungen, die der Chefankläger des IStGH 2011 einleitete, deuten darauf hin, dass im Kontext dieser bewaffneten Auseinandersetzungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen wurden. 2020 konnte ein von UNISMIL vermittelter Waffenstillstand vereinbart werden, im Zuge dessen im März 2021 eine neue Übergangsregierung, bezeichnet als ‚Government of National Unity’, unter Premierminister Abdulhamid Dbaibah eingesetzt wurde. Der Waffenstillstand beinhaltete zudem einen Fahrplan für die Beendigung des Konflikts zwischen den rivalisierenden Regierungen, der freie allgemeine Wahlen vor Ende des Jahres 2021 vorsah. Es folgte eine Phase relativer politischer Stabilität, während der in mehreren Gebieten Libyens Kommunalwahlen durchgeführt werden konnten. Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im gesamten Staatsgebiet wurden jedoch wiederholt verschoben. Im Jahr 2022 erklärten Milizen, die mit der östlichen Regierung affiliiert sind, das Mandat des Premierministers Dbaibah sei ausgelaufen. Sie entzogen ihm und seiner Regierung in Tripoli die Anerkennung und riefen eine neue Regierung in Sitre, bezeichnet als ‚Government of National Stability’ aus. Bis heute ist Libyen zwischen rivalisierenden Regierungen gespalten, von denen sich keine auf ein demokratisch legitimiertes Mandat berufen kann.
In Folge von Berichten über die Tötung eines hochrangigen Angehörigen einer Miliz brach in Tripoli am 12. Mai 2025 eine neue Welle der Gewalt zwischen rivalisierenden Milizen aus. Zugleich forderten Demonstrationen freie Wahlen und den Rücktritt der Regierung Dbaibahs. Es gab Berichte von Opfern unter der Zivilbevölkerung. Erneut ist UNISMIL um Verhandlungen bemüht, um einen neuen Waffenstillstand zu vereinbaren.
3. Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes
Das Römische Statut, als der zugrundeliegende völkerrechtliche Vertrag des Internationalen Strafgerichtshofes, bezieht sich mehrfach auf die ‚Gerichtsbarkeit‘, um die Reichweite der Befugnisse des Gerichtshofs zu definieren. Im strafrechtlichen Bereich können Staaten ihre Gerichtsbarkeit auf vier Prinzipien stützen: Territorialität, den Schutz legitimier Interessen, Personalität (in Bezug auf die Staatsangehörigkeit von Täter:innen oder von Opfern) sowie das Weltrechtsprinzip. Dabei bildet Territorialität den primären Anknüpfungspunkt, um die Zuständigkeit der nationalen Gerichte zu begründen, wohingegen die gerichtliche Zuständigkeit aufgrund der Nationalität von Täter:innen oder Opfern oder des Schutzinteresses des Staates weniger verbreitet ist.
Eine Besonderheit des IStGH ist, dass sein Statut das Ermessen der Anklagebehörde kaum einschränkt. Artikel 13 des Römischen Statuts sieht drei ‚Auslöse-Mechanismen‘ für die Ausübung der Zuständigkeit des IStGH vor: Überweisung durch einen Mitgliedstaat, Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat, und die Tätigkeit des Anklägers bzw. der Anklägerin proprio motu. Wie bereits zu Beginn dieses Artikels angemerkt wurde, überwies der Sicherheitsrat der UN durch Resolution 1970 vom 26. Februar 2011 die Situation in Libyen seit dem 15. Februar 2011 an den IStGH.
Zudem wurde der IStGH mit dem Einverständnis der Staaten, die seiner Gerichtsbarkeit unterliegen, eingerichtet. Indem sie Vertragsstaaten des Römischen Statuts werden, erkennen die Staaten die Zuständigkeit des Gerichtshofes über Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression offiziell an. Wann immer diese Verbrechen entweder auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates oder von oder gegen seine Staatsbürger:innen begangen werden, können die mutmaßlichen Täter:innen vor dem IStGH dafür strafrechtlich verfolgt werden. Zugleich beschränkt das Römische Statut die Zuständigkeit des Gerichtshofes und räumt nationalen Gerichten Priorität ein. Nur dann, wenn nationale Gerichte „nicht willens oder nicht in der Lage“ sind, die Ermittlungen und die Strafverfolgung zu führen, wird der IStGH tätig.
Neben der territorialen und personalen Gerichtsbarkeit infolge der Ratifikation des Römischen Statuts durch den Mitgliedstaat ermöglicht Artikel 12(3) die ad hoc Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IStGH durch einen Staat, der kein Mitgliedstaat ist. Diese Norm legt fest, dass der „anerkennende Staat [...] mit dem Gerichtshof ohne Verzögerung oder Ausnahme" zusammenarbeiten muss, um ihn bei seinen Ermittlungen und der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen in seinem Zuständigkeitsbereich zu unterstützen. In ihrer Erklärung über die Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs können Staaten Ermessen nur in Bezug auf die zeitliche Zuständigkeit ausüben, etwa indem sie einen Zeitraum oder eine Situation benennen. Im vorliegend diskutierten Fall der Erklärung durch die libysche Regierung, wird dem IStGH die Zuständigkeit über mutmaßliche Verbrechen anerkannt, die auf dem libyschen Staatsgebiet im Zeitraum von 2011 bis 2027 begangen worden.
4. Implikationen der Entscheidung Libyens
Obwohl der IStGH seine Gerichtsbarkeit bereits seit 2011 ausübt, bekräftigt Libyen mit seiner offiziellen Erklärung der Anerkennung, seinen rechtlich verbindlichen Verpflichtungen zur vollständigen und bedingungslosen Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof nachzukommen. Der Chefankläger des IStGH begrüßte die Erklärung der Regierung Libyens und hob hervor, dass sie „einen tiefgreifenden Schritt hin zu einer erneuerten Plattform für eine Zusammenarbeit zwischen dem IStGH und Libyen auf der Suche nach Gerechtigkeit darstellt". Er betonte zudem die Notwendigkeit, Osama Elmasry Njeem an den Gerichtshof zu überstellen, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, die mutmaßlich in einem Gefängnis in Tripoli begangen wurden. Njeem war am 18. Januar 2025 aufgrund eines Haftbefehls und Auslieferungsersuchen des IStGH in Italien zunächst festgenommen worden. Am 21. Januar 2025 wurde er jedoch entlassen und nach Libyen überstellt, ohne den IStGH darüber zu informieren. Er befindet sich bis heute auf freiem Fuß.
Der Fall Osama Elmasry Njeem verdeutlicht die Defizite einer glaubwürdigen, transparenten Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen auf nationaler Ebene. Damit eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den IStGH möglich ist, muss das libysche Rechtssystem beweisen, dass es unabhängig, bereit und fähig ist, solche Fälle zu verfolgen. Professor Dr. Christoph Safferling, Direktor der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien, begrüßte die Anerkennung des IStGH durch die libysche Regierung, hob aber zugleich hervor, dass „Zusammenarbeit und Durchsetzung Hand in Hand“ gehen. Die Erklärung „eröffnet dem IStGH und Libyen neue Chancen, in einer Zeit, in der das Völkerrecht unter starkem Druck steht” allerdings müssen „der Rhetorik Taten folgen, und das heißt Reformen“, auch auf nationaler Ebene. Direktor Safferling fügte hinzu, dass diese Entwicklung „Möglichkeiten eröffnet, für einen konstruktiven Dialog und für neue Partnerschaften, die dazu dienen können, Gerechtigkeit zu fördern und Rechte der Opfer zu stärken“. (aw/pg)